FRYDERYK CHOPIN MENSCH,  PIANIST,  KOMPONIST.

Auszug aus dem Buch von Prof.Mieczysław Tomaszewski Frederic Chopin und seine Zeit, Laaber Verlag, Germany ,1999.

 

“Niemand hat je die Tasten so berührt“

Es scheint unmöglich, sich das Spiel Chopins vorzustellen. Selbstverständlich fehlen Methoden, es in concreto zu erfassen, wiewohl es oft genug mit großer Genauigkeit beschrieben wurde. Aus diesen Berichten, die nicht selten übereinstimmen oder einander ergänzen, sind mindestens Konturen seines Vortrags zu gewinnen.


1. Für seine Zeitgenossen unterschied sich Chopins Spiel deutlich von Vortragsweisen Hummels, Kalkbrenner, Thalbergs und Liszts, die als Norm und Gipfelleistungen gesehen wurden. Alle Zeugnise stimmen darin überein, daß sie das Spiel Chopins als ungewöhnlich, unvergleichbar und eigenartig bezeichnen. Nach Maurice Mochnacki “spielt Chopin nicht so wie die anderen“.[1] Nach François-Joseph Fétis “haben seine Art, Klavier zu spielen, und seine Kompositionen keine Analogie zu dem, was bekannt ist; die Originalität wurde bei ihm zur markanten Eigenschaft“.[2] Und Ferdinand Hiller meinte schlicht: “Niemand hat die Tasten je so berührt.“[3] Schließlich war – so Felix Mendelssohn Bartholdy – “in seinem Spiel etwas durchaus Ungewöhnliches“.[4] Wenn es anders wäre, wenn – wie Liszt es sah – die grundlegende Eigenschaft des Chopinschen Spiels nur das vornehme, subtile, reizvoll Salonartige wäre, schiene die öffentliche, nicht witzlose Bemerkung des Pariser Kritikers Ernst Legouvé undenkbar, der am 25. März 1838 in der Gazette Musicale de Paris schrieb: “Auf die Frage,wer der größte Pianist der Welt ist – Liszt oder Thalberg, gibt es nur eine Antwort: Chopin.“[5]


2. Ein vollständiges Bild setzt sich aus vielen Elementen zusammen: aus den unter dem unmittelbaren Eindruck von Chopins Spiel geschriebenen Konzertrezensionen (Mochnacki, August Kahlert, Fétis, Louis Escudier, Berlioz, Liszt), aus Briefen und Erinnerungen der Freunde (darunter mit Hiller, Moscheles, Mendelssohn und Schumann auch zahlreiche Musiker), aus Äußerungen von Schülern (Karol Mikuli, G. Mathias, E. Cheremietiew, M. Czartoryska, Wilhelm von Lenz) und auch namhafter Zeitgenossen (Heine, de Custine, Balzac, Delacroix und George Sand). Diese Texte, unterschiedlich hinsichtlich ihrer Länge und ihrer Qualität, aus verschiedensten Quellen sorgfältig gesammelt (ehedem von Friedich Niecks[6] und F. Hoesick[7], in jüngster Zeit von Jean-Jacques Eigeldinger[8]), erlauben uns dank wiederholter, oft refrainartiger Formulierungen die für Chopins Spiel konstitutiven Eigenschaften zu ermitteln. Demnach war sein Spiel:

– äußerst originell, ohne Vorbild, individuell und persönlich

– voll von “Luft und Licht“, subtil und delikat, leicht und rein;

– außerordentlich klangschön und ausdrucksvoll in reichsten Nuancierungen;

– dynamisch vielfältig abgestuft, vor allem im Piano-Bereich, wo es oft auf verschiedenen Stufen pulsierte (wodurch es manchen zu leise schien), in Kulminationsmomenten aber betonte es die Macht des Klanges (“Energie ohne Brutalität“);

– rhythmisch ungebunden, nutzte es ein unwiederholbares Rubato, wobei aber der metrische Puls und das Tempo streng beachtet wurden;

– deutlich artikuliert, in Phrasierungen, die einen Vergleich mit der gesprochenen Sprache nahelegten, zugleich aber realisierte es mit Hilfe eines legato cantabile, eines gesanglich “breiten Tons“, ein Belcanto auf dem Klavier;

– intim und poetisch, aber ohne jede Affektiertheit und Exaltiertheit, ohne Sentimentalität, Emphase und Pathos;

– von Natürlichkeit, Einfachheit und Ebenmaß gekennzeichnet, bei lebhafter Spontaneität (das “Klavier wurde zum Leben erweckt“) und ständiger Variabilität (“nichts zweimal in derselben Weise“).


3. Der einzige Klavierlehrer Chopins war Wojciech Żywny, ein Pädagoge, von dem wir immer noch zu wenig wissen, um präzis eine pianistische Tradition bestimmen zu können, die er an Chopin weitergab. Gewiß war Chopin ein ungewöhnlicher Schüler, ein Pianist “von Natur aus“; und sein Lehrer mußte nach ein paar Jahren feststellen, daß er diesem Schüler nichts mehr beibringen konnte. Chopin reifte als Pianist in rasch aufeinanderfolgenden Phasen, fasziniert vom Spiel Maria Szymanowskas und Hummels, dann Fields und Kalkbrenners, schließlich – und ganz besonders nachhaltig – Liszts: “Ich möchte ihm die Art stehlen, wie er meine eigenen Etüden interpretiert.“[9]

Zweifelsohne hat das Spiel Chopins eine Entwicklung durchgemacht. Davon zeugt ein veränderter Ton der Rezensionen privater Berichte und Äußerungen im Laufe der Jahre. Mochnacki hatte 1830 den Eindruck, daß Chopins Spiel “so voll an Ausdruck, Gefühl, Gesang ist, daß es im Hörer manch angenehmes Nachsinnen erweckt“.[10] Im Jahre 1832 war es für Fétis “ein elegantes, leichtes, entzückendes Spiel voller Anmut, von Glanz und Reinheit gekennzeichnet“.[11] Einige Jahre später fand G. Mathias in diesem Spiel “viel Kraft, Passion und Begeisterung“.[12] Noch später erinnerte sich A. F. Marmontel an das Klavierspiel Chopins als “Spiel, das Phrasen seines Gesanges zwischen Traum und Wirklichkeit ausspinnt“.[13] 1848 hörte der englische Rezensent G. Hogart in der pianistischen Kunst Chopins “Meisterschaft, calm, Feinheit und Raffiniertheit“.[14] Mit aller Vorsicht könnten wir also folgern, daß die Phasen im Spiel Chopins parallel zu Phasen in seinem Schaffensprozeß verliefen.


4. Chopin gab in seinem Leben lediglich etwa 30 Konzerte, die als öffentlich bezeichnet werden können: fünf in Warschau, je eins in Duszniki und Breslau, drei in Wien, eins in München, zwölf in Paris, drei in London, je eins in Rouen, Manchester, Glasgow und Edinbourgh. Keineswegs war er in allen diesen Konzerten der einzige Künstler auf dem Programm, zumeist war er nur einer der Mitwirkenden, wenn auch oft der renommierteste, zumal bei Benefizveranstaltungen. Dagegen konzertierte er viel in privaten Kreisen: in den Salons der Aristokratie und (manchmal) des Geldadels, bei Freunden und – bei sich.

Manche seiner öffentlichen Konzerte hatten eine besondere Bedeutung. Zwei Wiener Konzerte – seine erste Bühnenerfahrung (1829) – gaben den Anstoß, die Laufbahn eines Pianisten einzuschlagen. Die Warschauer Konzerte (1830) halfen ihm, eine Bestätigung im eigenen Milieu zu finden. Das erste der Pariser Konzerte (1832) war ein  unerwartet kraftvolles Entree in die große Welt des europäischen Klavierspiels seiner Zeit. Der Pariser Verleger A. Farrenc faßte seine Eindrücke gegenüber dem Leipziger Kollegen Friedrich Kistner in die Worte: “Sein Erfolg war groß, und es ist doch etwas Außergewöhnliches nötig, um einen Eindruck auf so viele glänzende Pianisten zu machen, die Paris seit Jahren besitzt, wie Moscheles, Hummel oder Kalkbrenner.“[15]

Die Karriere eines Pianisten sollte Chopin jedoch nicht einschlag. Drei Jahre später, nach einem wenig gelungenen Konzert im Théâtre des Italiens (22. März 1835) zog er sich aus dem öffentlichen Konzertleben zurück.[16] Es folgte eine Wandlung: den Platz des konzertierenden Pianisten nimmt der Komponist ein, der sich nur noch selten öffentlich hören läßt. Sechs Jahre lang wartete Paris, bis Chopin wieder auf der Bühne erschien. Drei berühmte Konzerte – in den Jahren 1841, 1842 und 1848 – enthusiastisch aufgenommen, brachten in das Pariser Musikleben eine Neuerung, die als “kompositorisches Klavierrecital“ bezeichnet werden könnte. Es hatte einen halb-privaten Kammercharakter: Chopin trat dabei vor Bekannten aus der höchsten Pariser Elite auf, die sich im Salon von Pleyel versammelt hatte.

Wie Franz Liszt am 26. April 1841, dem Tag nach dem ersten Konzert, meinte, wurde das Spiel Chopins “mit höchster Entzückung von der Blut-, Geld-, Talent- und Schönheitsaristokratie beklatscht“.[17] Wenn wir Liszt Glauben schenken, hat Chopin ihm selbst gestanden, daß er für öffentliche Konzerte einfach nicht geeignet sei: “Das Publikum schüchtert mich ein, sein Athem erstickt, seine neugierigen Blicke lähmen mich, ich verstumme vor den fremden Gesichtern.“[18] Und eine Äußerung George Sands gegenüber Pauline Viardot – witzig, aber auch boshaft formuliert – bestätigt Ton und Sinn der Äußerung Liszts: “Er will keine Plakate, keine Programme, kein großes Publikum, er will nicht, daß über ihn gesprochen wird. Alles erschreckt ihn so, daß ich ihm vorschlage, ohne Kerzen, ohne Zuhörer, auf dem stummen Klavier zu spielen.“[19]

Eine Alternative des Konzertlebens, in einem kleinen Raum nicht öffentlich zu musizieren, bevorzugte Chopin sein Leben lang, angefangen von den ersten Auftritten in Warschauer Salons, über Wien und Dresden bis hin zu den musikalischen Soirée in Paris, London und Schottland. Bei allen, die Eindrücke und Erinnerungen unmittelbar nach der Begegnung mit dem Spiel Chopins festhielten, herrscht die Überzeugung, daß erst unter diesen Umständen – privat, nach einer Improvisation oder in deren Folge – im Spiel Chopins sein pianistisches Genie aufblitzte. Darüber sind sich Heine und Berlioz, Liszt und Delacroix, Julian Fontana und George Sand einig.[20] Nach ihren Berichten ermöglichten solche Abende mit Chopins Musik, obwohl sie den Rhythmus, die Ordnung und die Gewohnheiten des traditionellen Salonlebens beibehielten, Begegnungen mit einer Kunst, die sich ganz deutlich von jenen typischen Salonkonzerten unterschied, die lediglich auf das divertissiment der Teilnehmer gerichtet waren. Sie brachten tiefe, unwiederholbare Erlebnisse, hatten – den Berichten der Zuhörer zufolge – oft die Funktion einer katharsis.


5. Das Repertoire des Pianisten Chopin bedarf noch einer näheren Betrachtung und Interpretation. Schon auf den ersten Blick fallen die Unterschiede im Repertoire der öffentlichen und privaten Konzerte auf und dessen Differenzierung im Laufe der Zeit. In seinen Lehrjahren (1823–29) präsentiert sich der junge Chopin vor allem mit Virtuosenkonzerten der großen nachklassischen Pianisten; er spielte Konzerte von Ferdinand Ries, Johann Nepomuk Hummel, V. Jirovec und Ignaz Moscheles. In seinen Wanderjahren (1829–31) rücken eigene konzertante Werke in den Vordergrund: Variationen über “Don Giovanni“, Phantasie über polnische Themen, Rondo a la Krakowiak und die beiden Konzerte. Zur Konzerttradition von damals gehörte auch das Improvisieren über vom Publikum gegebene Themen, die aus aktuell erfolgreichen Opern stammten oder sich populärer Gesänge und Volkslieder bedienten.[21] In der frühen Pariser Phase (1831–35) spielte Chopin neben eigenen Werken auch andere, die seinerzeit en vogue waren. Dabei trat er nicht als Solist auf, sondern als Kammermusiker, der sich an der Aufführung von Werken seiner Freunde beteiligte – Kompositionen, die mit dem Ende der Epoche in Vergessenheit geraten sind und heute weder gespielt noch gehört werden, z.B. Ferdinand Hillers Grand Duo op. 135, Franz Liszts Grand Duo über ein Thema Mendelssohns (beide für zwei Klaviere), George Onslows Sonate op. 22, I. Moscheles Sonate op. 47 (beide für vier Hände), Henri Herz’ Grande Piece über ein Thema Meyerbeers für acht Hände oder die Grand Polonaise Ferdinand Kalkbrenners, für sechs Klaviere arrangiert.[22] Bis zum Jahre 1835 zahlte Chopin so seine Schulden jenem Milieu zurück, das ihn aufgenommen hatte. Es folgen zunächst Jahre des Schweigens auf dem Konzertpodium (1836–41) und anschließend eine Zeit halbprivater Kammerkonzerte. Das Repertoire seiner drei lang erwarteten und nachher kaum weniger anhaltend kommentierten Konzerte bei Pleyel konzentrierte sich auf eigene Solowerke. Chopin spielte seine Préludes und Etüden, Mazurken und Walzer, Scherzi und Balladen, Nocturnes und Impromptus, Berceuse und Barcarole, schließlich während des letzten Konzerts (1848) die Cellosonate und – als einziges Werk eines anderen Komponisten – das g-moll-Trio von Mozart. Zwei mit Blick auf die körperliche Verfassung Chopins eingelegte Pausen wurden mit dem Auftritt seiner Freunde H. W. Ernst, D. Allard, A. Franchomme, L. Domoreau-Cinti und Pauline Viardot gefüllt.

Es ist nicht leicht, die Liste der an rein privaten Abenden aufgeführten Werke zu rekonstruieren. Bekannt ist nur, daß Chopins Repertoire differenziert und abwechslungsreich war. Nach Karol Mikuli spielte er neben eigenen Kompositionen auch “alle großen, schönen Werke“[23] des Klavierrepertoires: Sonaten, Konzerte, Tänze, Rondos, Variationen von Mozart und Beethoven, Schubert und Weber, Mendelssohn, Hummel und Field. Dazu auch und vor allem Bach – aber nur bei besonderen Gelegenheiten. Eines Tages spielte er vor seiner völlig verblüfften Schülerin, Friederike Müller auswendig vierzehn Präludien und Fugen aus dem Wohltemperierten Klavier; auf ihre Überraschung hin antwortete er: “Das vergißt man nie.“[24] Aus seinem eigenen Œuvre präsentierte er ein breiteres Repertoire als während der Recitals: die Sonate b-moll oder beide Konzerte, deren Klavierstimme dann seine besten Schüler wie Elisa Peruzzi oder Carl Filtsch übernahmen. Chopin selbst übernahm die Orchesterbegleitung auf einem zweiten Instrument.


6. Chopin war es nie gleichgültig, auf welchem Klavier er spielte. In seinen Briefen finden wir viele Informationen über seine Bemühungen, ein Instrument zu finden, das seinen klanglichen Vorstellungen entsprach. Bei jedem seiner Warschauer Konzerte spielte er auf einem anderen Flügel; als das Warschauer Instrument von Buchholtz – mit einer englischen Mechanik, die es möglich machte, ein legato hinreichend gesanglich zu spielen – einen zu schwachen Klang hervorbrachte, tauschte Chopin es gegen ein Wiener Klavier aus, das eine deutlichere und prägnantere Artikulation zuließ.[25] In Wien wählte er ein Instrument von Graf, aber erst in Paris fand er, was er suchte: das Klavier Pleyels. “Das hat meinen Klang!“[26] Es war jener Klang, der für einen großen Saal zu schwach war, dagegen ideal für Konzerte im kleineren Rahmen, bestens geeignet, unzählige Nuancen von Anschlag und Dynamik wiederzugeben. Wie der Pariser Le Pianiste 1833 mitteilte, bot das Klavier von Pleyel die Möglichkeit, “Romanzen von Field, Mazurkas von Chopin, Nocturnes von Kessler zu singen“.[27] Nur wenn Chopin sich schwächer fühlte, nahm er das Klavier Erards mit dem stärkeren, intensiven, zwar ein wenig harten, aber regen Klang; dieses Instrument wurde übrigens auch von Liszt bevorzugt.[28] In London kam dazu noch ein Flügel Broadwoods, nach Meinung Chopins “der Pleyel von hier“.[29]

Zu Hause, bei der Arbeit, auch auf Mallorca und in Nohant benutzte Chopin ein Pianino von Pleyel oder ein cottage piano von Broadwood. Er haßte es, auf schlechten oder verstimmten Instrumenten zu spielen. Die Klaviere für Delfina Potocka und Maria Wodzinska hat er selbst ausgewählt.

Es ist nicht leicht, auf heutigen Klavieren den Klang der Instrumente aus der Zeit Chopins wiederzugeben; für uns sind sie zu historischen Instrumenten geworden. Versuche, einen “authentischen“ Klang auf den Instrumenten aus jener Epoche zu rekonstruieren, können zu aufschlußreichen Erkenntnissen führen. Es fällt uns jedoch schwer, sich einen Chopin-Wettbewerb z. B. auf Instrumenten von Pleyel aus dem Jahre 1842, dem pianistischen Höhepunkt Chopins, vorzustellen. Das Problem ist äußerst komplex, denn – wie W. Lutoslllawski bemerkte – erscheint “bei keinem anderen Komponisten in der gesamten Musikgeschichte so nachhaltig und so unverbrüchlich groß die geheimnisvolle Beziehung von drei Elementen: Hand, Klaviatur und musikalischer Empfindung.“[30]


7. Der Erfolg des ersten Pariser Konzerts hatte zur Folge, daß Chopin bald zu einem beliebten Klavierlehrer wurde, mit der Zeit auch zu einem berühmten. Manchmal war sogar die Protektion von Liszt oder Meyerbeer notwendig, um einen Platz unter den Schülern Chopins zu finden.

Chopin unterrichtete nicht lange, nur wenige Jahre. Aber vieles deutet darauf hin, daß er es mit großer Überzeugung, Kenntnis, Passion und Zielstrebigkeit tat. Es gibt zwei Quellen, die uns manches darüber mitteilen, wie er ein Ziel zu erreichen suchte: zwar nur bruchstückhafte, dafür umso zahlreichere Mitteilungen von Schülern und einzelne, aber bedeutsame Notizen Chopins zu seiner geplanten Méthode, d.h. einer Schule des Klavierspiels. Beide Quellen stimmen überein. Und Jean-Jacques Eigeldinger hat diese Äußerungen der Schüler nicht nur verifiziert und systematisiert, sondern auch einen Versuch unternommen, jene Méthode zu rekonstruieren.[31]

Den Ausgangspunkt der pianistischen Ästhetik Chopins bildete die Idee, daß Musik ein Äquivalent der Sprache ist. Die Spieltechnik soll der Artikulation dieser Sprache dienen und bewirken, daß das Spiel zu einer sinnvollen Sprache wird. Mithin wurde all das betont, was dazu dient, dem Instrument einen Klang zu entlocken, dessen Schattierungen einer Vielzahl möglicher Deutungen entsprächen innerhalb einer als Diskurs verstandener Komposition, die, als Sprache aufgefaßt, zunächst sinnvoller Phrasierung und Artikulation bedarf. Karl Mikuli hat sich eine von Chopin während des Unterrichts gebrauchte Metapher gemerkt: “Falsche Phrasenbildung macht den Eindruck, als ob jemand sich in einer ihm unverständlichen Sprache ausdrücken möchte, wobei er zu verstehen gibt, daß die Musik eben nicht seine Muttersprache ist.“[32] Nach Marcelina Czartoryska zielt die gesamte intellektuelle Reflexion über das Klavierspiel bei Chopin darauf, den Schülern die Analogie zwischen Musik und Sprache zu zeigen.[33]

Die Sprache der Musik war dabei bei Chopin untrennbar mit dem Gesang verbunden. Zu seiner Schülerin Wiera Kologriwow sagte er: “Wenn Sie Klavier spielen wollen, müssen Sie singen lernen.“[34] Zu Wilhelm von Lenz: “Das Modell soll aus dem Gesang von Giuditta Pasta, aus der ganz großen, italienischen Gesangschule genommen werden.“[35] Zu Emilia von Timm: “Man soll mit den Fingern singen.“[36] Jean-Jacques Eigeldinger faßte seine Meinung dazu auf eine vielleicht ein wenig zugespitzte, aber überzeugende Weise zusammen: “Für Chopin war der Gesang Alpha und Omega der Musik, er bildet das Fundament der ganzen instrumentalen Praxis.“[37]

Bemerkenswert sind auch die Anweisungen Chopins zur Spieltechnik. Sie betrafen u.a. die Körperhaltung (ungezwungen , aber konzentriert), die Position der Hände auf der Klaviatur (wie bei der Tonleiter E-Dur), die Reihenfolge, alle Tonleitern einzustudieren (von H-Dur und Fis-Dur angefangen bis zu der schwierigsten: C-Dur), die Applikatur (z.B. den Daumen auf schwarzen Tasten zu benutzen, den ersten Finger unter den fünften zu setzen, den dritten zum Skandieren der Melodie zu verwenden), schließlich das Pedalnehmen (was auch gebraucht wurde, um dem Impressionismus nahe harmonisch-koloristische Effekte zu erreichen). Die Praktiker der Klavierspiels werden vielleicht über manche Mitteilungen der Schüler Chopins überrascht sein, verlangte er doch von seinen Schülern eine formale Analyse des Werkes, bevor sie mit der Interpretation am Instrument beginnen durften. Bisweilen schickte er sie sogar ins Konservatorium, damit sie dort einen Kurs in Analyse nähmen. Er unterrichtete mit dem Metronom auf dem Klavier. Das rubato sollten die Schüler, seinen Hinweisen folgend, lernen, indem sie die Pariser Meister des bel canto beobachteten.[38]

Chopin unterrichtete zwar nur Fortgeschrittene, begann den Unterricht aber (zur großen Enttäuschung mancher) nicht mit eigenen Werken. Vorher mußte Clementi (Préludes et exercices und Gradus ad Parnassum), Cramer und Moscheles (Etüden) und natürlich Bach (Wohltemperiertes Klavier und Suiten) gespielt werden. Bei Chopin wurde viel von der Muik zwischen Bach und Mendelssohn, ferner Liszt gespielt. Eigeldinger stellte vergleichend das Repertoire etlicher Schüler zusammen; die Ergebnisse sind sehr aufschlußreich, werfen dennoch manche Fragen auf, zumal unser Wissen in diesem Bereich wahrscheinlich sehr unvollständig ist. Denn es ist z.B. leicht nachzuvollziehen, daß von Liszt nur Paraphrasen gespielt wurden, warum aber nichts von Schumann?[39] Und so verständlich es ist, daß Chopin seinen Schülern seine frühen Werke im brillanten Stil nicht gab, so schwer läßt sich eine Erklärung finden, warum er – wie es scheint – manche Balladen, Scherzi und die letzten Polonaisen überging.

Versuche, die Zahl seiner Schüler zu bestimmen, unternahmen Jeanne Holland, die 126 Namen aufführte[40], später Eigeldinger, der diese Liste um etwa zwei Dutzend erweiterte. Darunter finden sich sehr begabte Klaviervirtuosen, ferner Pianisten, die zu guten Pädagogen geworden sind. Die Mehrheit bildeten Damen, am häufigsten adlige oder aus vornehmem Haus, die das Klavierspielen als Bestandteil einer angemessenen Ausbildung betrachteten.

Zu den konzertierenden Pianisten[41] sind mit Sicherheit George Mathias, Adolph Gutmann, F. Henri Peru, Thomas Tellefsen und Gräfin Elise Peruzzi zu zählen, mit der Chopin gern Werke für zwei Klaviere oder vier Hände spielte. Die größte Hoffnung setzte Chopin auf Carl Filtsch, jenes phänomenale Talent, das als Verkörperung des Meisters selbst galt. Filtsch starb unerwartet bereits 15jährig, erst an der Schwelle der sich abzeichnenden Karriere. Das hervorragende pädagogische Talent war Karl Mikuli. Zu seinen Schülern gehörten so unterschiedliche Persönlichkeiten wie Raoul Koczalski, Alexander Michalowski und Heinrich Schenker. Eine gewisse Autorität als Bewahrer einer Chopinschen Tradition genossen auch Frederike Müller (-Streicher), Camille O’Meara (-Dubois) und Wiera Kologriwow (-Rubio). Auf der langen Liste der Fürstinnen und Gräfinnen, der Ehefrauen und Töchter von prominenter Familien – alter Geschlechter wie Thun-Hohenstein oder neuer wie Rothschild – treten (wenn auch aus unterschiedlichen Gründen) fünf Namen in den Vordergrund: Fürstin Elisawieta Scheremietiew, Gräfin Delfine Potocka, Maria Kalergis und Jane W. Stirling, vor allem aber die Fürstin Marceline Czartoryska. Obwohl keine professionelle Pianistin, war sie in Polen neben Mikuli die größte Autorität in Fragen der Interpretation von Werken Chopins. Wilhelm von Lenz hielt ihre Vortragsweise – besonders, was die Phrasenbildung und Artikulation betraf – für “den treuesten Reflex des Spiels ihres Meisters“.[42]

 



[1] Maurice Mochnacki, in Kurier Polski (Warszawa) vom 22. März 1830.

[2]François-Joseph Fétis, Biographie universelle des musiciens, Bd. 3, Bruxelles 1836, S.129.

[3]Ferdinand Hiller, Briefe an Ungenannte, Köln 1877, S. 151.

[4] Brief Felix Mendelssohn-Bartholdys an Fanny Hensel vom 6. Oktober 1835, zit. nach

[5] Ernst Legouvé, in Gazette Musicale de Paris vom 25. März 1838.

[6]Friedrich Niecks, Frederick Chopin al Mensch und Musiker, 2 Bde., Leipzig 1890 (zuerst London 1888).

[7] Ferdynand Hoesick, Chopin. ZZZycie i twórczosssccc, 2 Bde., Warszawa 1910–11.

[8]Jean-Jacques Eigeldinger, Chopin vu par ses élčves, Neuchatel 1970, 31988.

[9] Brief Franz Liszt, Chopins und Auguste Franchommes an Ferdinand Hiller vom 20. Juni 1833, in: Frédéric Chopin, Briefe, hrsg. von Krystyna Kobylannnska, Berlin 1983, S. 145.

[10]Mochnacki, in Kurier Polski vom 22. März 1830.

[11]François-Joseph Fétis, in Revue Musicale vom 3. März 1832.

[12]Mitteilung von George Mathias an J. Philipp vom 12. Februar 1897, zit. nach dem Vorwort zu dessen Exercices quotidiens tirčs des śuvres de Chopin, Paris 1898.

[13] A. F. Marmontel, Les Pianistes celebres, Paris 1878, S. 12.

[14] G. Hogart, in Daily News vom 7. Juli 1848.

[15] Brief Aristide Farrencs an Friedrich Kistner vom 17. April 1832. Zit. nach: Zofia Lissa, Chopin w ssswietle korespondencji wspólllczesnych mu wydawców, in: Muzyka ## (1960) Nr. 1, S. ##.

[16] Vgl. dazu: Jean-Jacques Eigeldinger, Koncerty Chopina w Paryzzzu w latach 1832–1838, in: Rocznik Chopinowski 17 (1985), S. 164–167.

[17] Franz Liszt, Concert de Chopin, in: Revue et Gazette Musicale de Paris vom 2. Mai 1841.

[18] Franz Liszt, Chopin, Paris 1852, frei in’s Deutsche übertragen von La Mara, Leipzig 1880, S. 85 (= Gesammelte Schriften von Franz Liszt, Bd. 1).

[19] Brief George Sands an Pauline Viardot vom 18. April 1841.

[20] Vgl. dazu: Heinrich Heine, Über die französische Bühne. Zehnter Brief, 1838; Hector Berlioz, Mort de Chopin, in Revue des Debats vom 27. Oktober 1849; Liszt, Chopin, S. 104ff.; Eugčne Delacroix, Journal, Paris 1893–95, Notiz vom 20. April 1853; Julian Fontana, [Vorwort zu] Frédéric Chopin, Śuvres Posthumes, Paris und Berlin 1855; George Sand, Histoire de ma vie, Bd. 10, Paris 1856, S. 227.

[21] Vgl. Krystyna .Kobylannnska, Les improvisations de Frederic Chopin, in Chopin Studies 3 (1990), S.77–103.

[22] Vgl. Eigeldinger, Koncerty Chopina w Paryzzzu, S. 147–177, insbesondere S. 173–177.

[23] Karol Mikuli, [Vorwort zu seiner Ausgabe von Werken Chopins], Leipzig: Kistner 1880, S. 3.

[24] Vgl. Friedrich Niecks, Friedrich Chopin als Mensch und Musiker, Leipzig 1890, Bd 2, S. 367.

[25] Vgl. dazu: Beniamin Vogel, Fortepiany epoki Chopina, in Rocznik Chopinowski 17 (1985), S.129–133.

[26] Beleg ergänzen

[27] Beleg ergänzen

[28]Hippolyte Barbedette, Frederic Chopin. Essai de critique musicale, Paris 1861, S. 27.

[29] Beleg ergänzen

[30] Äußerung W. Lutoslllawskis in Polen ## (1970), Nr. 9.

[31]Jean-Jaques Eigeldinger, Chopin vu par ses élčves, Neuchatel 31988, sowie ders. (Hrsg.), Frederic Chopin. Esquisses pour une Méthode de Piano, Paris 1993.

[32]Mikuli, [Vorwort], S. 4.

[33] Als Äußerung von Marcelina Czartoryska wiedergegeben von J. Kleczynnnski, O wykonywaniu dzielll Chopina, Warszawa 1879.

[34] Wiera Kolllogriwow; zit. nach Eigeldinger, Chopin vu par ses élčves, S. 71.

[35] Wilhelm von Lenz, Übersichtliche Beurtheilung der Pianoforte-Kompositionen von Chopin, in Neue Berliner Musikzeitung ## (1872); zit nach Eigeldinger, Chopin vu par ses élčves, S. 70.

[36] Vgl. Maria von Grewingk, Eine Tochter Alt-Rigas, Schülerin Chopins, Riga 1928, S. 20.

[37]Eigeldinger, Chopin vu par ses élčves, S. 26.

[38] Vgl. Gastone Belotti, Le origini italiane del “rubato” chopiniano, Wroclllaw 1968.

[39] Die Mitteilung von Camille O’Meara-Dubois, daß Werke Schumanns im Untericht vollständig gefehlt haben, wiedergegeben bei Friedrich Niecks, Chopin, Bd. 2, S. 123 und 207f.

[40] Jeanne Holland, Technika i jej ksztalllcenie w pedagogice Chopina, in Rocznik Chopinowski 11 (1978), S. 56.

[41] Vgl. hierzu J. Methuen-Campbell, Chopin Playing from the Composer to the Present Day, London 1981.

[42]Wilhelm von Lenz, Beethoven et ses trois styles, Paris 1909, S. 303f.; zit. nach Eigeldinger, Chopin vu par ses élčves, S. 239f.