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    Eine Transzendenz-Idee zu Leben, Tod und Wiedergeburt.
    Prof. Bozena Maria Maciejowska
    
    Chopin hat sowohl den Hörern als auch den Künstlern und
    Interpreten seiner Musik ein großes Rätsel aufgegeben! Sogar
    den großen Musikpropheten Schumann hat er irregeführt.
    Denselben, der von Chopins Opus 2 so enthusiastisch sprach:
    „Hut ab, ihr Herren, ein Genie!“
    Aber eben dieser Schumann hat über den Trauermarsch
    der b-Moll-Sonate geschrieben: „Er hat sogar manches
    Abstoßende; an seiner Stelle ein Adagio, etwa in Des, würde
    ungleich schöner gewirkt haben.“ Was hat tatsächlich
    Schumann aus dem Konzept gebracht? Vielleicht war es der
    entblößte Naturalismus? Über das Finale schrieb Schumann:
    „Denn was wir im Schlußsatze unter der Aufschrift »Finale«
    erhalten, gleicht eher einem Spott als irgendeiner Musik.
    Und doch gestehe man es sich […], dass wir wie gebannt und
    ohne zu murren bis zum Schlusse zuhorchen – aber auch
    ohne zu loben: Denn Musik ist das nicht.“
    Hat Schumann also einen Fehler begangen? Hat er den
    rechten Sinn dieser großen Musik nicht zu deuten gewusst, die
    ein Loblied einer höheren Dimension des Lebens bedeutet?
     
    Ihre Entdeckung leitet Bozena Maciejowska aus dem
    Konzept ihres Lehrers, des berühmten Pianisten Viktor
    Merzhanov, ab, die sie dann nach ihrer eigenen Intuition
    umwandelt. Merzhanov hat sowohl mir als auch anderen
    von seinem Seh-Hör-Erfahren des Finales erzählt. Seine
    Interpretation stütze sich auf die Ablehnung der Feststellung
    Rubinsteins, das Finale sei „ein Windzug zwischen
    Gräbern“. Dieser Gedankengang scheint zwar durchaus
    logisch zu sein – denn was bleibt vom Menschen nach
    seiner Beerdigung? Nur das Heulen des Windes. Dennoch
    widerspricht diese Friedhofsinterpretation dem Gehör und
    negiert die spirituelle Sphäre. Warum? Weil sie äußerlich
    ist und Chopin sich ja immer der Innenwelt zuwendet.
    Sie ist kalt und anschaulich, während die Musik ja von der
    Wärme der lebendigen, menschlichen Intonation erfüllt
    ist. Merzhanov liefert eine andere, psychologisch weitaus
    tiefere Interpretation: Vor uns liegt die mythische Lethe,
    der Fluss des Vergessens. Bożena Maciejowska geht jedoch
    noch weiter. Sogar die heidnischen Bilder sind zu monoton,
    um die christliche Offenbarung auszudrücken. Die Lethe
    verwischt die Bilder des Lebens und versetzt sie ins Reich
    der Schatten. Dabei ist uns ein Leben versprochen, ein
    reiches Leben noch dazu! Und eben dieses künftige Leben
    wird zum Thema großer Kunst.
    In ihrer theoretischen und künstlerischen Interpretation
    schlägt die ausgezeichnete polnische Pianistin eine
    außergewöhnlich interessante Lösung des Rätsels des
    geheimnisvollen Finales vor. Dies gelingt ihr, indem sie
    einige Erkenntnisse Merzhanov weiterentwickelt, um die
    Konstruktionen der im Strom zahlloser Konfigurationen
    aufgelösten Intonationen zu entdecken, die für alle Sätze
    der Sonate charakteristisch sind, wie – summa summarum
    – Bilder des ganzen Lebens, die vor dem Auge erscheinen.
    Die Lethe, der Fluss des Vergessens, verschlingt barmherzig
    in ihren Tiefen jeden körperlichen Schmerz, alle Qualen
     
    und Leiden. Und eben dann beginnt aus dem Abgrund
    der Erfahrungen des Lebens das Licht zu erscheinen. Dieser
    Eindruck des Leuchtens entsteht durch das rasche Flimmern
    der Intonationen der vorherigen Teile der Sonate, als
    ob sie sich ihrer Lasten entledigten. In dieser Auffassung
    verliert das Finale seine Düsterheit und gewinnt einen
    reinigenden Charakter.
    Besonders zu betonen sind die Meisterschaft der Analyse
    und die Feinheit des Gehörs, die es Bozena Maciejowska
    ermöglichten, diese Intonationsreflexe zu erfassen. Noch
    größeres Lob verdient die Fähigkeit der Pianistin, den
    Zuschauern diese Intonationsverbindungen zu vermitteln,
    indem sie im Wehen des immer lebendigen Geistes (und
    nicht eines Windzugs zwischen Gräbern) die Bedeutungsund
    Harmonieelemente der früher erschienenen Themen
    hervorbringt. Die Zeit nimmt hier die Form der Ewigkeit
    an, wenn die Barrieren zwischen Vergangenheit, Gegenwart
    und Zukunft verschwinden und der Geist einen neuen
    Horizont des Sehens findet. Die Mehrheit der von Bozena
    Maciejowska entdeckten Intonationsverbindungen zu allen
    Sätzen der Sonate, von denen das Finale durchdrungen ist,
    ermöglicht es den Künstlern, ihre Interpretation unendlich
    zu variieren und dadurch jeder Ausführung einen einzigartigen
    Charakter zu verleihen und in der Summe der vielen
    unterschiedlichen Ausführungen die Tiefe der ergreifenden
    Schönheit dieser Musik zu entdecken.
    Für diese Stärkung, für die Schönheit der Hoffnung,
    deren Flamme aus einem der wohl tragischsten Werke des
    genialen Komponisten aufleuchtet, müssen wir seiner
    Landsmännin dankbar sein.
    
    Vorwort von Prof. Vecislav Medushevski
    Musikwissenschaftler P. Tschaikovski Konservatorium
    Moscov
