Buchvorstellung und Diskussion






„Finale aus Sonate b-Moll op. 35“
Eine Transzendenz-Idee zu Leben, Tod und Wiedergeburt.
Prof. Bozena Maria Maciejowska

Chopin hat sowohl den Hörern als auch den Künstlern und
Interpreten seiner Musik ein großes Rätsel aufgegeben! Sogar
den großen Musikpropheten Schumann hat er irregeführt.
Denselben, der von Chopins Opus 2 so enthusiastisch sprach:
„Hut ab, ihr Herren, ein Genie!“
Aber eben dieser Schumann hat über den Trauermarsch
der b-Moll-Sonate geschrieben: „Er hat sogar manches
Abstoßende; an seiner Stelle ein Adagio, etwa in Des, würde
ungleich schöner gewirkt haben.“ Was hat tatsächlich
Schumann aus dem Konzept gebracht? Vielleicht war es der
entblößte Naturalismus? Über das Finale schrieb Schumann:
„Denn was wir im Schlußsatze unter der Aufschrift »Finale«
erhalten, gleicht eher einem Spott als irgendeiner Musik.
Und doch gestehe man es sich […], dass wir wie gebannt und
ohne zu murren bis zum Schlusse zuhorchen – aber auch
ohne zu loben: Denn Musik ist das nicht.“
Hat Schumann also einen Fehler begangen? Hat er den
rechten Sinn dieser großen Musik nicht zu deuten gewusst, die
ein Loblied einer höheren Dimension des Lebens bedeutet?

 

Ihre Entdeckung leitet Bozena Maciejowska aus dem
Konzept ihres Lehrers, des berühmten Pianisten Viktor
Merzhanov, ab, die sie dann nach ihrer eigenen Intuition
umwandelt. Merzhanov hat sowohl mir als auch anderen
von seinem Seh-Hör-Erfahren des Finales erzählt. Seine
Interpretation stütze sich auf die Ablehnung der Feststellung
Rubinsteins, das Finale sei „ein Windzug zwischen
Gräbern“. Dieser Gedankengang scheint zwar durchaus
logisch zu sein – denn was bleibt vom Menschen nach
seiner Beerdigung? Nur das Heulen des Windes. Dennoch
widerspricht diese Friedhofsinterpretation dem Gehör und
negiert die spirituelle Sphäre. Warum? Weil sie äußerlich
ist und Chopin sich ja immer der Innenwelt zuwendet.
Sie ist kalt und anschaulich, während die Musik ja von der
Wärme der lebendigen, menschlichen Intonation erfüllt
ist. Merzhanov liefert eine andere, psychologisch weitaus
tiefere Interpretation: Vor uns liegt die mythische Lethe,
der Fluss des Vergessens. Bożena Maciejowska geht jedoch
noch weiter. Sogar die heidnischen Bilder sind zu monoton,
um die christliche Offenbarung auszudrücken. Die Lethe
verwischt die Bilder des Lebens und versetzt sie ins Reich
der Schatten. Dabei ist uns ein Leben versprochen, ein
reiches Leben noch dazu! Und eben dieses künftige Leben
wird zum Thema großer Kunst.
In ihrer theoretischen und künstlerischen Interpretation
schlägt die ausgezeichnete polnische Pianistin eine
außergewöhnlich interessante Lösung des Rätsels des
geheimnisvollen Finales vor. Dies gelingt ihr, indem sie
einige Erkenntnisse Merzhanov weiterentwickelt, um die
Konstruktionen der im Strom zahlloser Konfigurationen
aufgelösten Intonationen zu entdecken, die für alle Sätze
der Sonate charakteristisch sind, wie – summa summarum
– Bilder des ganzen Lebens, die vor dem Auge erscheinen.
Die Lethe, der Fluss des Vergessens, verschlingt barmherzig
in ihren Tiefen jeden körperlichen Schmerz, alle Qualen

 

und Leiden. Und eben dann beginnt aus dem Abgrund
der Erfahrungen des Lebens das Licht zu erscheinen. Dieser
Eindruck des Leuchtens entsteht durch das rasche Flimmern
der Intonationen der vorherigen Teile der Sonate, als
ob sie sich ihrer Lasten entledigten. In dieser Auffassung
verliert das Finale seine Düsterheit und gewinnt einen
reinigenden Charakter.
Besonders zu betonen sind die Meisterschaft der Analyse
und die Feinheit des Gehörs, die es Bozena Maciejowska
ermöglichten, diese Intonationsreflexe zu erfassen. Noch
größeres Lob verdient die Fähigkeit der Pianistin, den
Zuschauern diese Intonationsverbindungen zu vermitteln,
indem sie im Wehen des immer lebendigen Geistes (und
nicht eines Windzugs zwischen Gräbern) die Bedeutungsund
Harmonieelemente der früher erschienenen Themen
hervorbringt. Die Zeit nimmt hier die Form der Ewigkeit
an, wenn die Barrieren zwischen Vergangenheit, Gegenwart
und Zukunft verschwinden und der Geist einen neuen
Horizont des Sehens findet. Die Mehrheit der von Bozena
Maciejowska entdeckten Intonationsverbindungen zu allen
Sätzen der Sonate, von denen das Finale durchdrungen ist,
ermöglicht es den Künstlern, ihre Interpretation unendlich
zu variieren und dadurch jeder Ausführung einen einzigartigen
Charakter zu verleihen und in der Summe der vielen
unterschiedlichen Ausführungen die Tiefe der ergreifenden
Schönheit dieser Musik zu entdecken.
Für diese Stärkung, für die Schönheit der Hoffnung,
deren Flamme aus einem der wohl tragischsten Werke des
genialen Komponisten aufleuchtet, müssen wir seiner
Landsmännin dankbar sein.


Vorwort von Prof. Vecislav Medushevski
Musikwissenschaftler P. Tschaikovski Konservatorium
Moscov